| Eine Betrachtung |
Ende Januar 2021. Der Jahreswechsel scheint schon wieder eine halbe Ewigkeit her. Seit den frühen Morgenstunden wärmt die Sonne den Boden, die dicken Gebäudemauern und mein Gemüt. Gestern noch lag draußen alles still unter einer puderweißen Schneedecke. Der stolze Schneemann mit Hut blickt heute auf die Hälfte geschrumpft standhaft zu mir herüber. Vom ersten Stock unserer neuen Wohnung schaue ich rechter Hand auf ein altes, schönes Schloß. Erhaben steht es da, mit seiner edlen Barockfassade. Die alte Uhr über dem Eingangstor mit römischem Ziffernblatt zeigt halb Fünf. Eine andere Zeit kennt sie nicht. Seit wann das so ist, weiß niemand genau. Es scheint keine Rolle zu spielen. Die Tage unterteilen sich hier ohnehin nur nach Hell und Dunkel. Es gibt Dinge, die man am besten erledigt haben sollte, bevor es Dunkel wird. Denn Dunkel bedeutet hier Tiefschwarz. Daran musste ich mich erstmal gewöhnen. So ist das auf dem Land. Keine Straßenlaternen, die alles hell ausstrahlen, wie in der Stadt, wo man auch deshalb den Sternenhimmel nicht gut sehen kann.
Bei weit geöffnetem Fenster sitze ich im sonnendurchfluteten Wohnzimmer an meinem Schreibtisch und bin einfach nur dankbar. Dafür, dass wir jetzt hier sind und nicht mehr in Berlin. Dafür, dass es hier so schön ist, wir nicht in, aber auf einem Schloss in der Nähe von Wien leben, in einer großzügigen Wohnung mit dazugehörigem Garten und dem Platz für ein Atelier, wo mein Mann malen kann. Dafür, dass wir zwar auf dem Land, aber nicht abgeschieden sind, weil es hier einige interessante Menschen gibt auf dem Hof und natürlich dafür, dass uns dieser einschneidende Schritt von Deutschland nach Österreich zu ziehen, innerhalb kürzester Zeit so gut gelungen ist. Noch vor einem halben Jahr hätte ich mir nicht vorstellen können, jetzt dieses Leben zu führen.
Ich habe lange überlegt, welches der erste Text von unserem neuen Zuhause sein sollte. Noch in Berlin wollte ich über die Zeit des Abschieds schreiben. Über die Wege, die wir innerhalb unseres "alten" Lebens zuletzt gegangen sind. Die Treffen mit Freunden und Familie, die überrascht von unserem schnellen Abgang waren. Dabei ging dem ein längerer Prozess voraus, mit der Suche nach dem richtigen Zeitpunkt und dem idealen Ort. Wenn dann plötzlich alles zusammenkommt, gibt es keinen Anlass für Aufschub mehr. So war es bei uns. Und so blieb keine Zeit zum Reflektieren und Texte schreiben, da wir all unsere Kräfte brauchten, unser bisheriges Leben und das Atelier einzupacken und mit samt unserer Katze an einem neuen Ort 700 Kilometer südwärts wieder aufzubauen.
Das Zurückschauen und Nachspüren kommt erst jetzt, knapp drei Monate später. Als mein Mann mir heute Morgen einen Artikel aus einer alten Monopol-Ausgabe vorlas, bei dem der Autor einen nächtlichen Spaziergang durch Berlin-Mitte beschreibt, da war es, als hätten wir selbst diese Wege und Straßen erst gestern beschritten. So vertraut schien uns seine Beschreibung, die ihn von der Choriner Straße über die Torstraße, entlang der Linienstraße zur Alten Schönhauser, zurück über die Max-Beer-Straße, Almstadtstraße, quer über den Rosa-Luxemburg Platz in die Schönhauser Straße, über den Pfefferberg wieder in die Choriner Straße führte. Und auch wenn ich bereits mit Überzeugung sagen kann, unsere neuen Wege viel lieber zu gehen, so stellte ich mit Erstaunen fest, wie tief verankert die Wege Berlins in meiner DNA sind. Als gäbe es ein Zellbewusstsein, das die Bilder, Erinnerungen und verschiedenen Stimmungen abruft und zu einer gefühlten Realität werden lässt. So war ich heute Morgen gedanklich wieder in Berlin, und mir wurde bewusst, wie viele Geschichten ich dort erlebt und Lebensphasen ich in dieser Stadt verbracht habe.
Als eine in Ost-Berlin Geborene bin ich eine "echte" Berlinerin. Es fiel mir jedoch lange schwer, dies zu sagen. Ich fand einfach keine Entsprechung in mir. Meinen Freunden geht das ganz anders. Sie fühlen sich durch und durch als Berliner und sind stolz darauf. Es ist eine Frage von Identität, Zugehörigkeit und Verwurzelung. Aber woran macht man das eigentlich fest? Ist es der Ort, an dem wir geboren wurden? Oder das Land, die Sprache, Kultur, Familie oder Freunde? Ist die Identität automatisch damit verknüpft, wo man seine Kindheit verbracht hat und sozialisiert wurde? Eine allumfassende Antwort darauf habe ich bislang nicht gefunden. Ich kann mich nur dahingehend überprüfen, ob ich meine Herkunft verleugne, weil ich in der DDR aufgewachsen bin. Aber das ist es nicht. Ich würde aber sagen, dass mein ganz persönliches Berlingefühl mit dem Mauerfall entschwunden ist. Dabei zähle ich keinesfalls zu den ewig Gestrigen und Ost-Verklärern, ganz im Gegenteil. Aber die schönsten Erinnerungen an Berlin und der wahrhaftige Eindruck mit diesem Ort verbunden gewesen zu sein, hatte ich das letzte Jahr vor der Wende. Ich war jung, das erklärt vielleicht Einiges. Natürlich wollte ich damals in den Westen, die Welt sehen und frei sein. Und genau das habe ich dann auch getan. Aber diese Zeit kurz davor, ist und bleibt für mich einmalig.
Meine erste eigene Wohnung bezog ich mit 20 in der Choriner Straße. Sie war nicht groß, ungefähr 28 Quadratmeter, ein Zimmer und Küche, lag im 4. Stock Seitenflügel Hinterhaus mit Ofenheizung und Außentoilette im Hausflur, was besonders nachts und im Winter eine fortwährende Herausforderung darstellte. Dafür kostete sie nur 25 Mark. Ein Jahr zuvor hatte ich mein erstes Engagement als Tänzerin an der Komischen Oper Berlin angetreten und verdiente monatlich 1.250 Mark.
Es war die Zeit der unverbrauchten Jugend mit ersten Lieben, Parties in Abrisshäusern, launigen Stunden auf den Dächern des Prenzlauer Berg, neuen Freundschaften und Verabredungen ohne Telefon, stattdessen Kommunizieren über Zettelrollen an der Haustür, wartenden Verehrern auf dem Treppenabsatz im Hauseingang oder am Bühnenausgang, hitzigen Diskussionen in Theater-Kantinen, wilden Tanznächten im Sophienclub, die Zeit der französischen Filmabende im Centre Culturel Francais Unter den Linden, Rotwein mit Cola und die Zeit von konspirativen Treffen in wechselnden Wohnungen mit Literaturabenden und Monty-Python Videos, die von Diplomatenfreunden aus dem Westen der Stadt herübergebracht wurden. Meine Küche war ein beliebter Treffpunkt, weil es dort eine Dusche gab, einen Sandwichgrill und Amaretto zum Nachtisch. Ich liebte sie, diese Wohnung. Und das Lebensgefühl während dieser so besonderen Monate vor dem Mauerfall. Am 4. Januar 1990 verließ ich Berlin das erste Mal und zog in die Welt hinaus.
In den darauffolgenden drei Jahrzehnten bin ich immer wieder nach Berlin zurückgekehrt, meist jedoch nur auf bestimmte Zeit. Ich fühlte mich nur noch zu Gast in meiner eigenen Stadt. Ja, ich lebte zwar in Berlin, aber es hätte auch woanders sein können. Als ich vor fünf
Jahren meinen Mann kennenlernte, war ich eigentlich schon wieder auf dem Sprung. Nach Paris wollte ich unbedingt. Inzwischen bin ich froh, dass ich es nicht gemacht habe. Ich blieb also und merkte doch, dass ich mich nicht auf Dauer in Berlin verwurzeln möchte, und dass ich raus aus der Stadt wollte. Mein Mann kommt nicht aus Berlin und war ebenso offen, für den nächsten Schritt. Aber wohin? So begann ein längerer Prozess, währenddessen wir versuchten, uns darüber klar zu werden, was wir eigentlich suchten. Schlußendlich hat dieser Ort uns gefunden. Manchmal werden wir geführt. Und dann erweist es sich als richtig, dieser Führung bzw. der eigenen Intuition zu folgen.
Von meinem Schreibtisch aus blicke ich nun in die Ferne, beobachte, was das Wetter tagtäglich so treibt und schaue den Windrädern bei der Arbeit zu. Ich mag das bedächtige Drehen der Rotorenblätter. Es hat etwas Meditatives an sich. Nachts sehe ich sie rot blinken, und stelle mir vor, dass diese Stahlriesen überdimensionale Wächter sind. Hier kann ich atmen und zur Ruhe kommen. Und ich freue mich schon auf das Frühjahr, wo ich endlich in meinem eigenen Garten arbeiten und sein kann. Meine Schwiegermutter sagte neulich sinngemäß etwas sehr Interessantes: In der Stadt wirst du gelebt, getrieben vom Rhythmus, den Ereignissen und Menschen - auf dem Land bestimmst du dein Leben selbst. Es ist genau das, wonach ich mich gesehnt habe. Hier kann ich mich verwurzeln, festsetzen und bleiben, was ich in Berlin nicht wollte. Es fällt mir leicht. Ich denke nicht darüber nach, sondern tue es einfach.
Und hier, weit weg von meinem Herkunftsort, kann ich es plötzlich sagen: Ich bin eine Berlinerin. Ja, was auch sonst. Aber ich lebe jetzt in Österreich auf dem Land, im Vorhof eines Schlosses. Und DAS, fühlt sich endlich richtig an. Warum auch immer.
© Jeanette Ghyczy | 2021
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